Hella Brock gestorben
Alles für Grieg!
Sowohl in der DDR als auch im wiedervereinten Deutschland und darüber hinaus gehörte Hella Brock zu den wichtigsten Edvard-Grieg-Forschern ihrer Generation. Sie starb am 30. November 2020 in Dippoldiswalde im hohen Alter von 101 Jahren.
Bereits während ihrer wissenschaftlichen Aspirantur in der Zeit von 1955 bis 1959 am Institut für Musikerziehung der Martin-Luther-Universität Halle – damals geleitet von Professor Fritz Reuter (1896–1963) – begann sich Hella Brock mit dem Werk Edvard Griegs zu befassen. Da die Analyse unterschiedlicher Klangtechniken zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, ergab es sich bald, dass sie auch die Besonderheiten der harmonischen Bezüge in der Musik des Norwegers untersuchte, sodass sie auf diese Weise näher mit dessen Tonkunst bekannt wurde.
Während ihrer Professur an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (1963–1972) rückte erneut Edvard Grieg – sein Leben, seine sozialen und gesellschaftlichen Auffassungen sowie sein Schaffen – in den Gedankenkreis ihrer umfangreichen Wissenschaftsarbeit. Das Interesse wuchs, und so kam in der Professorin für Musikerziehung die Idee auf, eine Grieg-Biografie zu verfassen. Ermittlungen zum Thema nahmen ihren Anfang, doch die Forderungen des Tages unterbrachen immer wieder die Arbeit an ihrem Projekt. Als 1972 eine Umberufung als ordentliche Professorin für Theorie und Methodik der Musikerziehung an die Karl-Marx-Universität Leipzig erfolgte, gab Hella Brock trotz steigender Belastung das Projekt einer Grieg-Monografie nicht etwa auf, sondern verfolgte diese Idee weiter.
Nach ihrer Emeritierung im Jahr 1980 widmete sie sich dann ausschließlich dem norwegischen Nationalkomponisten. Sie erlernte die norwegische Sprache und erwirkte sogar unter DDR-Verhältnissen, dass sie 1985 zu Forschungszwecken nach Norwegen reisen durfte, wo sie den Kontakt zu den dortigen Grieg-Forschern herstellte. 1990 war es dann soweit: Im Verlag Reclam Leipzig erschien ihr mit zahlreichen Originalfotos versehenes Buch Edvard Grieg: Eine Biografie. Nach fast 50 Jahren war hierzulande erstmals wieder, verfasst von der deutschen Musikwissenschaftlerin Hella Brock, eine Biografie über denjenigen unter den skandinavischen Komponisten veröffentlicht worden, der mit seinem Werk Norwegen auf die musikalische Weltkarte gesetzt hatte. 1998 brachte der Verlag Schott Music ebenfalls die Monografie innerhalb seiner Serie Musik Atlantis Schott heraus. Die deutsche Grieg-Biografie davor stammte von Karl Gustav Fellerer aus dem Jahr 1942.
Zum Thema Edvard Grieg legte Hella Brock nachfolgend weitere Publikationen vor: Edvard Grieg im Musikunterricht (1995), Edvard Grieg – Briefwechsel mit dem Musikverlag C. F. Peters 1863–1907 (unter Mitarbeit von Finn Benestad, 1997), Edvard Grieg als Musikschriftsteller (1999), Griegs Musik zu Ibsens Peer Gynt (2001). Außerdem übersetzte sie neu und vollständig Griegs autobiografischen Aufsatz Mein erster Erfolg (in: Edvard Grieg als Musikschriftsteller), der, jedoch leicht gekürzt, 1910 in deutscher Sprache bei C. F. Peters erschienen war.
Und dann ihr bedeutendstes Vorhaben: Mit dem Ziel, im Gebäude des Musikverlages C. F. Peters Leipzig eine Begegnungsstätte zur Erinnerung an den norwegischen Komponisten Edvard Grieg zu errichten, gründete 1998 Hella Brock zusammen mit einer Initiativgruppe den EDVARD GRIEG – Gedenk-und Begegnungsstätte e. V., wiederum ein erstmaliges Ereignis dieser Art innerhalb bundesrepublikanischer Musikgeschichte.
Im Alter von 15 Jahren war Edvard Grieg nach Leipzig gekommen, um am damaligen Konservatorium Klavier und Komposition zu studieren. Mit C. F. Peters fand der junge Grieg in der Messe- und Musikstadt den Verlag, der bis heute für die Gesamtherausgabe seines Werkes verantwortlich zeichnet. Verlagsstandort ist seitdem das Haus Talstraße 10, wo Grieg, wenn er sich in Leipzig aufhielt, auch wohnen konnte.
Ende der 1990er-Jahre kaufte der Wiesbadener Arzt Dr. M.Y. Abdel-Aziz das Verlagsgebäude Talstraße 10. Das Haus jedoch war zur Zeit der DDR und danach in einen derart maroden Zustand geraten, dass dessen Renovierung sich als unumgänglich erwies. Aber die Baugenehmigung konnte nur dann in die Tat umgesetzt, wenn sich genügend Mieter finden sollten. Für eine Wohnung in diesem Bau interessierte sich zu dem besagten Zeitpunkt niemand.
Dem Haus, das mit dem Leben und Wirken Edvard Griegs in Leipzig eng verbunden war, drohte daraufhin der totale Abriss. Die Nachricht davon rief Hella Brock und den Verein auf den Plan, das Königlich Norwegische Konsulat wurde um Unterstützung gebeten, die Stadt Leipzig bestürmt, in diesem Falle von der getroffenen Regelung abzusehen. Die Aktivitäten hatten Erfolg, die Renovation konnte beginnen. Am 30.06.2004 wurde am Bau Talstraße 10 Richtfest gefeiert, und am 7. November 2005 konnte die EDVARD GRIEG – Gedenk- und Begegnungsstätte feierlich eingeweiht werden. Glücklich nahm Frau Professor Hella Brock als Vereinspräsidentin den symbolischen Schlüssel entgegen.
Auf ihre Initiative hin fand vom 24. bis 26. September 2004 in Leipzig der 5. Deutsche Edvard Grieg-Kongress statt. Unter dem Motto Edvard Grieg – Weltbild und Werk trafen sich Wissenschaftler, Grieg-Forscher, Musikschaffende und interessierte Musikfreunde zum gemeinsamen Erfahrungsaustausch. Zu den Referenten gehörten Gäste aus Deutschland, Norwegen, den Niederlanden, England und den USA.
Und auch den 6. Deutschen Edvard-Grieg-Kongress vom 19. bis 21. September 2008 organisierte Hella Brock unter dem Thema "Edvard Grieg – Norweger und Europäer in Wort und Werk". Der Kongress fand regen Zuspruch. Neben Referenten aus Norwegen und Deutschland stellten dabei vor allem Wissenschaftler aus Osteuropa ihre Forschungsergebnisse zu Werk und Wirkung Griegs in ihren jeweiligen Ländern vor.
Mit einem Konzert des norwegischen Pianisten Rune Alver fand am 16. Mai 2009 der Internationale Edvard-Grieg-Kongress in der Leipziger Begegnungsstätte seinen Abschluss. Mit voller Absicht hatte der Kongress diesen Ort gewählt. Dazu der damalige Präsident der Internationalen Edvard-Grieg-Gesellschaft (IGS) und heutige Direktor der Edvard-Grieg-Forschungsstelle an der Universität Leipzig Prof. Dr. habil. Patrick Dinslage: "Leipzig und allem voran die Talstraße 10 ist in Bezug auf Edvard Grieg ein ganz wichtiger und entscheidender Ort. Hier hat Griegs Musikverlag C. F. Peters seinen Sitz. In diesem Haus ist Grieg selbst viele Jahre lang ein- und ausgegangen. Hier kann man sein Wirken und Werk förmlich spüren." An diesem Tag wurde die Ehrenpräsidentin des EDVARD GRIEG – Gedenk- und Begegnungsstätte e. V. Hella Brock zum Ehrenmitglied der Internationalen Edvard-Grieg-Gesellschaft ernannt. Die Laudatio hielt der Doyen der norwegischen Grieg-Forschung Prof. Dr. habil. Finn Benestad.
Hella Brock war 89 Jahre, als sie 2008 nach 10 Jahren ihre Präsidentschaft aus Altersgründen in jüngere Hände legte. Und so kannten wir sie alle – Hella Brock als Mensch und Wissenschaftlerin:
Höchste Einsatzbereitschaft
Größte Präzision in ihrer
Wissenschaftsarbeit
Hervorragende Sprachkultur
Kritisch
In hohem Maße mitmenschlich und
hilfsbereit
Eine überzeugte Europäerin und
Gegnerin des Nationalsozialismus
Ungebrochen
Hella Brock, eine liebenswürdige und
charmante Frau
Grande Dame der
Edvard-Grieg-Forschung
von Joachim Reisaus